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Russland ist nicht die Sowjetunion

  • Autorenbild: WatchOut News
    WatchOut News
  • vor 1 Tag
  • 9 Min. Lesezeit

Wie ein Mythos des Kalten Krieges bis heute eines der meistmissverstandenen Länder der Welt prägt. Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sprechen Millionen von Menschen weltweit noch immer über Russland, als wäre die UdSSR nie verschwunden. 

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Der Geist, der nicht sterben will

In öffentlichen Debatten, Online-Diskussionen, Medienkommentaren und politischer Rhetorik wird das moderne Russland regelmäßig als „kommunistisch“, „sowjetisch“ oder „Relikt des Kalten Krieges“ bezeichnet. Die Bilder sind vertraut: graue Wohnblöcke, Brotschlangen, Geheimpolizei, zentral geplante Wirtschaft und eine geschlossene, erstarrte Gesellschaft, isoliert von der modernen Welt. Doch dieses Bild ist nicht nur veraltet – es ist grundlegend falsch.

 

Die Sowjetunion hörte im Dezember 1991 formell auf zu existieren. Sie verwandelte sich nicht in das heutige Russland. Sie brach zusammen, zerfiel in fünfzehn unabhängige Staaten und verschwand als politisches, wirtschaftliches und ideologisches System aus der Geschichte. Was Russland ersetzte, war kein umbenannter Kommunismus, sondern einer der schnellsten und chaotischsten Übergänge zum Kapitalismus, die jemals versucht wurden.

 

Und dennoch hält sich in weiten Teilen der Welt der Mythos, Russland sei noch immer kommunistisch, noch immer sowjetisch und noch immer rückständig.

 

Was die Sowjetunion tatsächlich war

Um zu verstehen, warum Russland nicht die Sowjetunion ist, muss man zunächst die UdSSR in ihren eigenen Begriffen begreifen – nicht als diffusen Bösewicht aus Filmen des Kalten Krieges, sondern als ein hochspezifisches ideologisches und institutionelles System.

 

Die Sowjetunion wurde 1922 nach der bolschewistischen Revolution und dem anschließenden Bürgerkrieg gegründet. Sie beruhte auf der marxistisch-leninistischen Ideologie, die das Privateigentum abschaffen, die Klassen beseitigen und den Kapitalismus durch eine zentral geplante Staatswirtschaft im Namen der Arbeiterklasse ersetzen wollte.

 

In der Theorie verkörperte die UdSSR die Herrschaft von Arbeitern und Bauern. In der Praxis entwickelte sie sich zu einem der am stärksten zentralisierten politischen Systeme der Menschheitsgeschichte.

Die Kommunistische Partei monopolisiere die politische Macht. Es gab keine freien Wahlen.

 

Oppositionsparteien waren illegal. Medien gehörten dem Staat. Öffentliche Kritik an der Regierung konnte Gefängnis, Verbannung oder Hinrichtung zur Folge haben.

 

Wirtschaftlich befand sich nahezu das gesamte Eigentum in staatlicher Hand. Fabriken, Landwirtschaft, Transport, Rohstoffe, Wohnraum und Infrastruktur wurden durch riesige bürokratische Planungsapparate kontrolliert. Produktionsziele wurden nicht durch Märkte, sondern durch staatliche Quoten bestimmt. Preise spiegelten nicht Angebot und Nachfrage wider, sondern ideologische Prioritäten.

 

Dieses System brachte reale Erfolge hervor – Massenalphabetisierung, rasche Industrialisierung, wissenschaftliche Durchbrüche und den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Zugleich erzeugte es massive Ineffizienz, chronische Mangelwirtschaft, politische Repression, Arbeitslager, Umweltkatastrophen und einen technologischen Rückstand gegenüber kapitalistischen Volkswirtschaften.

 

In den 1980er-Jahren stagnierte die sowjetische Wirtschaft. Die industrielle Basis war veraltet, die Konsumwirtschaft schwach, die Militärausgaben untragbar und das politische System hatte seine Legitimität verloren. Die Reformversuche unter Michail Gorbatschow konnten den Zusammenbruch nicht verhindern.

 

Im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion formell aufgelöst. Sie entwickelte sich nicht zu einem modernen Russland weiter – sie verschwand schlicht.

 

Der Zusammenbruch, der ein neues Land schuf

Das Ende der Sowjetunion war keine sanfte Reform oder bloße Umbenennung. Es war ein systemischer Kollaps, der nahezu jede Institution zerstörte, die das Land siebzig Jahre lang getragen hatte.

 

Die Planwirtschaft brach fast über Nacht zusammen. Staatliche Betriebe verloren ihre garantierte Finanzierung. Lieferketten zerfielen. Der Rubel stürzte ab. Ersparnisse wurden durch Hyperinflation vernichtet. Staatsgehälter wurden wertlos. Millionen Menschen stürzten innerhalb weniger Monate in Armut.

 

Zwischen 1991 und 1998 erlebte Russland einen der drastischsten wirtschaftlichen Einbrüche in Friedenszeiten der modernen Geschichte. Das Bruttoinlandsprodukt kollabierte. Die Lebenserwartung sank rapide. Alkoholismus, Kriminalität und soziale Desintegration nahmen dramatisch zu. Ganze Industriezweige verschwanden. Rentner verloren ihr gesamtes Erspartes.

 

Gleichzeitig durchlief Russland eines der radikalsten Experimente der schnellen Marktliberalisierung überhaupt. Diese Phase, bekannt als „Schocktherapie“, zerschlug das staatliche Eigentum in atemberaubendem Tempo. Fabriken, Ölfelder, Bergwerke, Banken und Infrastruktur wurden privatisiert – oft durch korrupte oder chaotische Verfahren, die einer kleinen Insidergruppe zu enormem Reichtum verhalfen.

 

So entstand die russische Oligarchenklasse – nicht unter dem Kommunismus, sondern unter einem extremen Frühstadium des Kapitalismus.

 

Wäre Russland tatsächlich „noch immer kommunistisch“, hätte nichts davon stattgefunden. Die 1990er-Jahre zerstörten die letzten realen Reste der sowjetischen Wirtschaftsstruktur. Am Ende des Jahrzehnts kontrollierte die Kommunistische Partei nicht mehr den Staat. Der KGB war formell aufgelöst. Die zentrale Planung war verschwunden. Privateigentum war legal. Börsen existierten. Ausländische Unternehmen drangen ins Land vor. Westliche Banken, Fast-Food-Ketten und Investmentfirmen eröffneten Filialen in Moskau und Sankt Petersburg.

 

Das sowjetische System wurde nicht bewahrt – es wurde demontiert.

 

Kapitalismus, nicht Kommunismus: die zentrale wirtschaftliche Realität

Der stärkste Einzelbeweis dafür, dass das moderne Russland nicht kommunistisch ist, ist schlicht: Es ist eine kapitalistische Volkswirtschaft.

 

Privateigentum ist legal und weit verbreitet. Russen kaufen und verkaufen Wohnungen, Grundstücke und Unternehmen. Sie investieren an Finanzmärkten. Sie erben Vermögen. Sie gründen private Firmen. Sie konkurrieren um Gewinne. Russland verfügt über eine Börse, private Banken, Versicherungen, Hedgefonds, Risikokapitalgesellschaften und Immobilienentwickler. Es gibt Luxus-Einzelhandel, gehobene Gastronomie, internationalen Tourismus und private Fluggesellschaften.

 

Am aufschlussreichsten ist vielleicht: Russland hat Milliardäre.

 

Unter dem Kommunismus können Milliardäre per Definition nicht existieren, da privater Besitz großer Produktionsmittel verboten ist. Im modernen Russland kontrollieren Dutzende Einzelpersonen gewaltige Privatvermögen aus Öl, Gas, Metallen, Banken, Telekommunikation, Einzelhandel und Industrie.

 

Diese Vermögen sind nicht abstrakt. Sie finanzieren reale Yachten, Privatjets, Fußballclubs, Weingüter, Wolkenkratzer und multinationale Konzerne.

 

Kein kommunistisches System bringt Oligarchen hervor. Das moderne Russland schon.

 

Das bedeutet nicht, dass Russland ein freier Markt im westlichen Sinn wäre. Das ist es nicht. Der Staat spielt eine enorme Rolle in strategischen Branchen wie Energie, Rüstung und Verkehr. Politische und wirtschaftliche Macht sind eng verflochten. Doch dies ist ein Merkmal staatsgelenkten Kapitalismus – nicht des Kommunismus.

 

Saudi-Arabien ist nicht kommunistisch. Singapur ist nicht kommunistisch. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind nicht kommunistisch. Dennoch kombinieren auch sie starken Staatseinfluss mit privatem Reichtum und globalen Märkten. Russland gehört in dieselbe Kategorie: eine kapitalistische Wirtschaft mit erheblichem staatlichem Einfluss.

 

Warum Autoritarismus nicht mit Kommunismus gleichzusetzen ist

Eine der hartnäckigsten Fehlannahmen ist die Vorstellung, ein autoritärer Staat müsse zwangsläufig kommunistisch sein. Historisch ist das falsch.

 

Kommunismus ist eine ökonomische Ideologie, die auf gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln beruht. Autoritarismus ist ein politisches Herrschaftssystem, das durch Machtkonzentration und die Unterdrückung politischer Opposition definiert ist. Beides kann zusammen auftreten – ist aber nicht identisch.

 

Die Sowjetunion war sowohl kommunistisch als auch autoritär.

 

Das moderne Russland ist politisch autoritär – aber wirtschaftlich nicht kommunistisch. Die politische Macht ist stark zentralisiert. Wettbewerb der Opposition ist massiv eingeschränkt. Mediennarrative werden eng gesteuert. Sicherheitsapparate besitzen enormen Einfluss. Diese Merkmale finden sich in autoritären Regimen weltweit – vom Nahen Osten bis nach Ostasien.

 

Ökonomisch hingegen funktioniert Russland über Märkte, Gewinnanreize, private Unternehmen und globalen Handel.

 

Diese Kombination – autoritäre Politik bei kapitalistischer Wirtschaft – ist kein russisches Unikum. Sie existiert in weiten Teilen der Welt. Sie mit Kommunismus zu verwechseln bedeutet, beide Systeme nicht zu verstehen.

 

Die globalisierte russische Wirtschaft

Ein weiterer Mythos des Kalten Krieges besagt, Russland sei wirtschaftlich noch immer isoliert wie einst die Sowjetunion. In Wirklichkeit ist das moderne Russland tief in den Welthandel eingebunden.

 

Russland gehört zu den weltweit größten Exporteuren von:

 

  • Öl

  • Erdgas

  • Kohle

  • Weizen

  • Düngemitteln

  • Nickel

  • Palladium

  • Uran

  • Aluminium

 

Seine Energieexporte heizen europäische Städte, treiben asiatische Fabriken an und versorgen den globalen Schiffsverkehr. Seine Agrarprodukte ernähren Millionen Menschen in Afrika und im Nahen Osten. Seine Metalle stecken in Autos, Smartphones, Flugzeugen und Infrastrukturanlagen weltweit.

 

Vor den geopolitischen Krisen der 2020er-Jahre war Russland vollständig in westliche Finanzsysteme integriert. Russische Unternehmen beschafften Kapital in London und New York. Eliten hielten Vermögen in der Schweiz, auf Zypern und in der Karibik. Westliche Konzerne waren offen in russischen Städten tätig. Russische Touristen reisten in zweistelliger Millionenhöhe durch Europa und Asien.

 

Die Sowjetunion existierte außerhalb des globalen Kapitalismus. Das moderne Russland agiert innerhalb dieses Systems – selbst dann, wenn es mit ihm im Konflikt steht.

 

Technologie, Infrastruktur und der Mythos der Rückständigkeit

Die Vorstellung eines technologisch rückständigen Russlands hält sich vor allem deshalb, weil Außenstehende das moderne russische Alltagsleben meist nur durch selektive Medienbilder wahrnehmen. Tatsächlich ist Russland in vielen Kernbereichen technologisch hochentwickelt.

 

Die Moskauer Metro gehört zu den größten, schnellsten und saubersten urbanen Verkehrssystemen der Welt. Das digitale Bankwesen entwickelte sich in Russland schneller als in weiten Teilen Europas. Kontaktloses Bezahlen, Gesichtserkennungssysteme und mobile Behördendienste sind in großen Städten weit verbreitet.

 

Russland ist weiterhin Weltspitze im Bau ziviler Kernenergieanlagen. Seine Reaktortechnologie wird international exportiert. Es betreibt eine der modernsten Eisbrecherflotten der Erde, darunter atomgetriebene Arktisschiffe. Seine Luft- und Raumfahrtindustrie ist nach wie vor leistungsfähig. Seine Raketentechnik zählt zu den anspruchsvollsten weltweit.

 

Russische Mathematiker, Physiker und Ingenieure sind international weiterhin hoch konkurrenzfähig. Das Land bildet jedes Jahr enorme Zahlen von MINT-Absolventen aus. Der Cybersicherheitssektor genießt weltweit Respekt – und Furcht.

 

All dies passt nicht zu dem Bild eines technologisch erstarrten sowjetischen Überbleibsels.

 

Der kulturelle Wandel

Die sowjetische Kultur war geprägt von Zensur, ideologischer Konformität und strenger staatlicher Kontrolle. Film, Literatur, Musik und Kunst dienten primär politischen Narrativen. Ausländische Kultureinflüsse waren stark eingeschränkt.

 

Die moderne russische Kultur hat mit diesem System kaum noch Ähnlichkeit.

 

Heute existieren eine kommerzielle Unterhaltungsindustrie, globalisierte Modetrends, unabhängige Musikszene, private Filmstudios, Online-Influencer, internationale Gaming-Communitys und weltweite Streaming-Plattformen. Westliche und asiatische Einflüsse vermischen sich in den Metropolen frei.

 

Die junge Generation wuchs nicht in der Sowjetunion auf, sondern in einer postsowjetischen digitalen Welt, geprägt von Smartphones, sozialen Medien, E-Commerce und globaler Kultur. Für sie ist die UdSSR Geschichte – keine eigene Erinnerung.

 

Warum das sowjetische Bild fortbesteht

Wenn die Sowjetunion 1991 endete, warum behandelt ein so großer Teil der Welt Russland noch immer, als hätte sie nie aufgehört zu existieren?

 

Ein Teil der Antwort liegt in der Psychologie. Die Narrative des Kalten Krieges prägten das globale Denken fast ein halbes Jahrhundert lang. Sie boten ein einfaches moralisches Deutungsschema:

 

Kapitalismus gegen Kommunismus, Demokratie gegen Diktatur, Freiheit gegen Unterdrückung.

 

Der Zusammenbruch der UdSSR beseitigte diese ideologische Klarheit – nicht jedoch die emotionalen Denkmuster.

 

Für politische Entscheidungsträger ist der Verweis auf die „sowjetische Bedrohung“ rhetorisch weiterhin nützlich. Er vereinfacht komplexe geopolitische Rivalitäten zu vertrauten moralischen Gegensätzen. Für Medien ist die sowjetische Symbolik sofort erkennbar und emotional wirksam. Für das Publikum ist sie leichter konsumierbar als die komplizierte Realität der postsowjetischen Transformation.

 

Doch historische Bequemlichkeit ist nicht historische Wahrheit.

 

Das sowjetische Imperium versus der russische Nationalstaat

Vielleicht das tiefste Missverständnis besteht in der Annahme, das moderne Russland besitze noch immer dieselbe imperiale Stellung wie die Sowjetunion.

 

Die UdSSR war nicht einfach Russland unter einem anderen Namen. Sie war ein multiethnisches Imperium, das Osteuropa, Zentralasien, den Kaukasus und das Baltikum umfasste. Die Ukraine, Kasachstan, Georgien, Lettland, Litauen, Estland, Armenien, Aserbaidschan und andere waren keine Auslandsstaaten – sie waren innere Bestandteile des sowjetischen Staates.

 

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR verlor Russland riesige Territorien, Bevölkerung, Industrie und geopolitische Macht. Es trat nicht als Supermachtimperium hervor, sondern als verletzter Nachfolgestaat, der sich inmitten von Wirtschaftskollaps und politischem Chaos neu definieren musste.

 

Das moderne Russland ist ein Nationalstaat – kein kommunistisches Revolutionsimperium.

 

Das postsowjetische politische Modell

Das Russland, das in den frühen 2000er-Jahren unter Wladimir Putin entstand, belebte nicht den Kommunismus neu. Es konsolidierte Macht in einem zentralisierten Nationalstaat. Es stellte staatliche Autorität nach dem Chaos der 1990er-Jahre wieder her. Es begrenzte politischen Pluralismus. Es stärkte die Sicherheitsinstitutionen. Es stabilisierte die Staatsfinanzen durch Energieeinnahmen.

 

Der ideologische Kern dieses Systems ist nicht der Marxismus. Es ist Nationalismus, Souveränität und Staatlichkeit innerhalb eines kapitalistischen Rahmens.

 

Die Kommunistische Partei existiert in Russland weiterhin, jedoch als legale Oppositionspartei in einem kapitalistischen System. Sie kontrolliert nicht den Staat. Sie lenkt nicht die Wirtschaft. Sie organisiert nicht die Gesellschaft.

 

Das moderne Russland als „kommunistisch“ zu bezeichnen, weil es politische Opposition unterdrückt, ist so zutreffend wie Saudi-Arabien als kommunistisch zu bezeichnen, weil dort Dissens eingeschränkt wird. Das Etikett passt schlicht nicht.

 

Die Realität ersetzt den Mythos

Das moderne Russland ist nicht die Sowjetunion.

 

  • Es besitzt keine Planwirtschaft.

  • Es schafft kein Privateigentum ab.

  • Es erzwingt keine marxistische Ideologie.

  • Es betreibt keinen Einparteien-Kommunismus.

  • Es isoliert sich nicht vom globalen Kapitalismus.

  • Es exportiert keine Weltrevolution.

 

Stattdessen agiert es als kapitalistischer, nationalistischer, autoritärer Staat, eingebettet in eine globalisierte Wirtschaft und geprägt von postsowjetischen Realitäten.

 

Das macht Russland nicht tugendhaft. Es macht es nicht demokratisch. Es macht es nicht friedlich. Aber es macht es grundlegend anders als das, was die Sowjetunion war.

 

Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der UdSSR sprechen Millionen Menschen weltweit noch immer über Russland, als wäre sie nie verschwunden.

 

Warum „rückständiges Russland“ ein Denkfehler ist

Die Vorstellung von einem rückständigen Russland beruht meist auf drei fehlerhaften Annahmen:

 

Dass technologische Modernisierung westliche politische Liberalität voraussetzt.Dass autoritäre Herrschaft zwangsläufig soziale Stagnation bedeutet.Dass nichtwestliche Entwicklungspfade grundsätzlich minderwertig seien.

 

Keine dieser Annahmen hält einer nüchternen Prüfung stand.

 

Russlands technologische Entwicklung ist ungleichmäßig – wie in vielen großen Ländern. Manche ländlichen Regionen kämpfen mit erheblichen Infrastrukturproblemen. Doch das widerlegt nicht die Existenz global wettbewerbsfähiger Sektoren in Energie, Luft- und Raumfahrt, IT, Cybersicherheit, Kerntechnik und moderner Industrie.

 

„Rückständigkeit“ ist keine technische Kategorie. Sie ist ein politisches Urteil.

 

Der psychologische Komfort des sowjetischen Etiketts

Russland weiterhin als „sowjetisch“ zu bezeichnen, erfüllt eine wichtige psychologische Funktion im westlichen politischen Diskurs. Es erhält eine einfache moralische Weltordnung, in der:

 

Der Westen für Fortschritt stehtRussland für RückschrittGlobale Konflikte als Neuauflagen des Kalten Krieges erscheinen

 

Dieses Deutungsmuster vermeidet die unbequeme Erkenntnis, dass die Welt nach dem Kalten Krieg nicht in eine einheitlich liberale Ordnung übergegangen ist – und dass viele Gesellschaften alternative Modernitäten gewählt haben.

 

Russland ist nicht im vergangenen Jahrhundert eingefroren. Es bewegt sich auf einem anderen, oft widersprüchlichen Weg, geprägt von seiner Geschichte, seiner Geografie, seinen Sicherheitsinteressen und seiner Wirtschaftsstruktur.


 
 
 

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